Andenken an Baldo Blinkert
Vorsitzender von FIFAS, 1983 – 2017

Wir nehmen Abschied von Baldo Blinkert … und wollen es doch nicht glauben. So verlässlich erschien er uns über Jahrzehnte in seinem Leben, in seinem Beruf, dass wir ohne Zögern angenommen haben, er würde uns die nächste Dekade begleiten. Er würde in kommenden Tagen auftreten, wie immer sachlich und unpathetisch über seine Projekte sprechen und uns präzise Erkenntnisse aus seinen Studien berichten und natürlich viel Aufmerksamkeit und Anerkennung erhalten.

Unzeitgemäß ist die Rücksichtslosigkeit eines Daseins, das ihn viel zu früh aus unserer Mitte reißt, ohne dass wir es ahnten. Was bleibt sind Erinnerungen an ein Jahrzehnte langes gemeinsames Tun, Erlebnisse mit ihm, sein umfangreiches Werk, Erinnerungen an seine Persönlichkeit.

Sozialwissenschaft war für ihn tatsächlich Beruf. Wir hören die Worte Max Webers aus „Wissenschaft als Beruf“: „Persönlichkeit auf wissenschaftlichem Gebiet hat nur der, der rein der Sache dient.“ Baldo tut dies, solange wir ihn kannten. Seine Untersuchungen hat er in einer Intensität durchgeführt, als hinge „das Schicksal der Menschen“ von den eigenen Erkenntnissen ab. Wer diese Leidenschaft nicht hat, so Weber „bleibe der Wissenschaft … fern“.

Baldo Blinkert ist wahrlich auch alles andere als ein „Brotgelehrter“. Friedrich Schiller verwendet diesen Begriff in seiner Antrittsrede (1789) und grenzt ihn vom intellektuellen (philosophischen) Kopf ab. Der intellektuelle Kopf wendet sich als Beobachter und Aufklärer der Lebenswelt zu. Vielleicht auch so pointiert, wie es in Brechts Galilei heißt: „Ich halte dafür, dass das einzige Ziel der Wissenschaft darin besteht, die Mühseligkeit der menschlichen Existenz zu erleichtern.“
Das könnte auf Baldo Blinkert passen. Er hat das, was er an Wissen gewonnen hat, nicht als Herrschaftswissen behalten, sondern in zahlreichen Texten und Gesprächen öffentlich gemacht.

Manche haben seine Schriften als Vademecum mit sich herumgetragen und in vielen Beratungen aus ihnen zitiert. Er hat kommunale Gremien und zivilgesellschaftlich Engagierte mit seinen Berichten zur Gestaltbarkeit des sozialen Lebens motiviert, wie überhaupt seine Forschungen auf „gelingendes Leben“ zielen.

Ihn fesseln ja nicht allein die empirischen Arbeiten. Baldo Blinkert ist engagiert, sobald im Team von soziologischen Klassikern die Rede ist: Weber, Durkheim, Simmel, Schütz, Husserl, Wittgenstein, Mills, Berger/Luckmann – Norbert Elias.
Wir verstricken uns in belebende Diskurse und gehen - in medias res - einer spannenden Klassikerexegese. Baldos Wissen bereichert, und wir denken spontan, ein Jour fixe abzuhalten, auch mit Studierenden dabei.

Sein 1983 zusammen mit Heinrich Popitz und weiteren Kollegen gegründetes Freiburger Institut für angewandte Sozialwissenschaft (FIFAS) war auch eine Plattform für Studierende, denen der praxisorientierte Weg in die empirische Sozialforschung und in die Berufswelt geebnet werden sollte.

Schon damals mit breit gefächerten Themen wie (1) Resozialisierung und Kriminalprävention, (2) Stadt- und Regionalplanung, (3) Arbeitsmarktpolitik und soziale Sicherheit, wobei sich die Themenfelder über die Zeit erweitert haben.

In der familienanalytischen Studie (1986), einer der ersten FIFAS-Projekte, heißt es für Freiburg (sinngemäß): "Angesichts der dargelegten Sachverhalte scheuen wir uns nicht, von einer bedrohlichen Entwicklung für die soziale und psychische Situation der Familien zu sprechen, und vor allem für die betroffenen Kinder, bedrohlich aber auch für die Kommunen und für den Lebensraum Stadt."
Über die Familienanalytische Studie wurde in der Badische Zeitung (1988) unter der Überschrift berichtet: Immer mehr Menschen leben mit dem Risiko, arm zu werden (03.03.88)

In vielen Jahren reiht sich Projekt an Projekt, wesentlich über einen unermüdlichen Denker Baldo Blinkert, zusammen mit seinem Team:

  • Aktionsräume von Kindern in Stadt und Land
  • Kommunale Jugendarbeit und Jugendforschung
  • Naturerfahrungsräume im besiedelten Bereich
  • Pflegebereitschaft und Pflege, aktives Altern im sozialen Wandel
  • Sicherheitseinschätzungen in der Bevölkerung
  • Chancen und Herausforderungen des demographischen Wandels
  • Erkundungen der Zivilgesellschaft (siehe FIFAS Homepage und Bibliographie Widmungsschrift)

Wir FIFAS-Kolleginnen und Kollegen sehen ihn bei harter Arbeit, wenn es um die Erstellung von Forschungsanträgen bei kommunalen, bundesdeutschen und europäischen Auftraggebern geht.

Die große Resonanz auf seine empirische Forschung ist Beweis dafür, dass die Soziologie auch in einer kritischer werdenden Öffentlichkeit positiv geschätzt wird. Die Dichte an Forschung, die Baldo Blinkert und FIFAS in den zurückliegenden 30 Jahren geleistet haben, lässt eine personelle Stärke dieses Instituts vermuten, die faktisch gar nicht der Fall war.

Wir haben Baldo Blinkert deshalb 2014 eine Widmungsschrift zum Thema „Sicherheiten und Unsicherheiten aus soziologischer Sicht“ überreicht, mit 26 Autorinnen und Autoren aus seinem weit verstreuten Kolleginnen- und Kollegenkreis.

Es war bewegend, zu erleben, wie Baldo den Herausgebern nach dem Überreichen der Widmungsschrift noch im Morgengauen lobend und in Bescheidenheit gedankt hat, ich zitiere aus seiner Email (30. Juni 2014): „Die Widmungsschrift ist wunderbar geworden. Ich habe voller Neugier noch am Abend (bis in die Nacht) darin gelesen. … Ich bin ganz überwältigt von so viel Wertschätzung. Es blitzen aber auch Querverbindungen und Assoziationsketten auf, die aus meiner Sicht weniger auf >Erreichtes< verweisen, sondern auf noch Einzuholendes. … Euer Beitrag ist auch ein Ansporn für mich.“

Das kennzeichnet ihn: In der Forschung weiterfahren: stetig auch das noch „Einzuholende“ im Blick.

Baldo liebte es, wissenschaftliche Arbeit immer wieder mit einem Aufenthalt in den Bergen zu verbinden; die Analogie liegt nahe, dass für ihn die wissenschaftlichen Anstrengungen vergleichbar sind mit kräftezehrenden Höhenwanderungen im Gebirge: beide Anstrengungen lohnen sich und zeitigen neue Sichtweisen und außergewöhnliche Panoramen.

Aus großer Höhe, mit weitem Panorama lässt sich vielleicht sagen, dass die gesamte Arbeit von Baldo Blinkert einer Analyse des Standes der Zivilisation und der Zivilisationsbrüche gegolten hat, wie sie sich heute in vielen Lebensbereichen und global abzeichnen. Diese Tätigkeit ist und bleibt wertvoll für die Gestaltung vieler Lebenswelten in schwieriger Zeit, auch nach seinem Scheiden.

Das Freiburger Institut für angewandte Sozialwissenschaft (FIFAS) wird Baldo Blinkert als kreativen Menschen in wacher Erinnerung behalten, als Meister, der ein großes enzyklopädisches Oeuvre hinterlässt. Wir werden ihm ein ehrendes Andenken bewahren.

05.12.2017
Hans Hoch

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